Sehen mit geschlossenen Augen

Ja, richtig gelesen: Ich kann tatsächlich mit geschlossen Augen ‚Sehen‘. Und nein, dass ist kein übernatürlicher oder esoterischer Murks … auch wenn ich diese Erfahrung bei einer schamanistischen Behandlung gemacht habe, es gibt eine wissenschaftliche Erklärung, ein Glück für meinen rationalen Ingenieursgeist 😉

Zuerst einmal, warum bin ich überhaupt zu einer Schamanin gegangen? Ich hatte im Sommer eine leichte depressive Episode und wollte diese überwinden. Auf eine Empfehlung „Du musst nur hingehen, auf die Liege legen und dann macht die Schamanin etwas ‚Energiearbeit‘. Vielleicht hilft es ja.“ hatte ich eine Termin vereinbart. Tatsächlich glaube ich zwar nicht an Hokupokus, andererseits denke ich, dass eine schamanistische Behandlung vielleicht auch nichts anderes als Psychotherapie ist, nur aus einem etwas anderen Blickwinkel.

Ich bin also bei der Schamanin, die plötzlich gar nicht meinen Schamanen-Vorurteilen à la ‚Games of Thrones‘ entspricht. Sie ist eine nette Frau in Jeans und Pullover mit einer warmen mütterlichen Ausstrahlung und leichten bairischen Akzent. Die Praxis ist auch kein Tippi, keine sibirische Schwitzhütte, sondern ein ganz normaler Praxisraum mit gemütlicher Sitzecke und einer Liege.

Das Versprechen „nur hingehen und auf die Liege legen“ stimmt nicht. Tatsächlich steht vor der schamanistischen Behandlung ein Amnanese-Gespräch, das sich in Nichts von einem Psychotherapeuten unterscheidet: Was sind Ihre Beschwerden? Was wollen Sie mit dieser Behandlung erreichen? Wie erkennen Sie, dass es Ihnen wieder gut geht? Familiäre Backround? Das Gespräch dauert recht lange, ist aber nicht unangenehm.

Dann wird es endlich schamanistisch, wie in meiner Vorstellung: Ich puste die Vorstellungen meiner Beschwerden in einen Stein, lege mich auf die Liege, entspanne erstaunlich schnell, schließe die Augen und die Schamanin beginnt mit der ‚Energiearbeit‘.

Plötzlich wird es spooky, nicht unheimlich, aber seltsam: Ich kann mit geschlossenen Augen schemenhaft die sich bewegenden Hände und das Gesicht der Schamanin ‚sehen‘. Ich mache die Augen auf und die Hände und das Gesicht sind genau dort, wo ich sie auch mit geschlossenen Augen gesehen habe. Augen wieder zu und ich ‚sehe‘ helle schemenhafte Hände über meinen Körper bewegen. Augen auf, die Hände sind genau dort.

Das folgende YouTube-Video beschreibt ziemlich genau meine Erfahrung, obwohl bei dem beschriebenen Versuch die Probanden nur ihre eigenen Hände sehen:

Ich wiederhole Augen zu, Augen auf. Irgendwann habe ich dann die Hände und das Gesicht an einer leicht versetzten Stelle gesehen. Puhh, ich bin echt erleichtert, ich kann also nicht wirklich mit geschlossenen Augen ‚sehen‘.

In der Nachbesprechung erzähle ich von meiner visuellen Erfahrung. Die Schamanin scheint nicht wirklich überrascht, sagt aber, dass noch kein Patient vor mir die Behandlung mit geschlossenen Augen sehen konnte.

Die Erfahrung lässt mir keine Ruhe und ich fange an zu recherchieren. Bei Wikipedia entdecke ich Artikel zu Closed-Eye Hallucination und Eigengrau. Aber beides entspricht nicht meinen Erfahrungen. Dann finde ich Berichte von Höhlenforschern, die ihre sich bewegenden Hände und auch Felsen ohne Licht als rotbraune Schemen wahrnehmen. Das passt schon eher. Schließlich finde ich eine wissenschaftliche Quelle von der Rochester University in New York, die meine Erfahrung beschreibt:

Dieter, K.C., Hu, B., Knill, D.C., Blake, R., & Tadin, D. (2013). Kinesthesis can make an invisible hand visible. Psychological Science.

Klicke, um auf nihms603048.pdf zuzugreifen

Anscheinend werden unsere Sinneswahrnehmungen nicht vollkommen getrennt im Gehirn verarbeitet: Wenn ich aus meiner Körperwahrnehmung weiß, wo sich meine Hand in der Dunkelheit befindet, dann versucht das Gehirn dort auch die Hand zu sehen und gaukelt mir einen passenden Seheindruck auch vor. Das geht soweit, dass wenn mir ein Partner sagt, er bewege seine Hand vor meinen Augen, dass ich sogar die fremde Hand gefühlt wahrnehme kann.

Bei der Schamanin war der ‚Versuchsaufbau‘ viel weniger wissenschaftlich streng, z.B. nicht vollkommen dunkel. Außerdem hörte ich sie atmen, konnte vielleicht die Körperwärme der Hände spüren oder das Rascheln der Kleidung hören. Zudem war ich sehr entspannt und gleichzeitig total aufmerksam. Jedenfalls kann ich mit geschlossenen Augen sehen, sehr spannend, aber auch erklärbar.

P.S.: Ob die schamanistische Behandlung erfolgreich war? Wer weiß, jedenfalls konnte ich das Sommertief überwinden.

Ein Kommentar zu „Sehen mit geschlossenen Augen

  1. Danke für deine Erklärung. Ich habe mal in einem Yogakurs mit geschlossenen Augen alle Teilnehmer gesehen. Wo sie sitzen, in welche Richtung sie schauen, Körperhaltung. Es ist gut zu wissen, dass es dafür eine logische Erklärung gibt.
    Schöne Grüße
    Nicole

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