Ich habe eine mittelgradige depressive Episode. Meine Freunde, Familie und Kollegen wissen von meiner Depression und bisher habe ich mit dem offenen Umgang damit keinerlei Probleme. Ich werde gefühlt von außen nicht stigmatisiert, es wird Anteil genommen, allerhöchstens etwas bemitleidet. Mir wird Mut zugesprochen, aber auch neugierig – aber nicht penetrant – nachgefragt. Kollegen die schon depressive Episoden durchlebt haben, bieten mir ihre Hilfe und Erfahrungen an.
Wenn das jetzt alles so toll ist, warum dann über „Stigmatisierung“ schreiben?

Weil ich mich erst selbst stigmatisiert habe. Es konnte nicht sein, weil es nicht sein durfte:
„Ich bin doch stark!“
„Ich habe eine glückliche Beziehung!“
„Ich erlebe die abenteuerlichsten Reisen!“
„Ich laufe Ultra-Trails!“
„Ich habe eine Führungsposition!“
Wer das alles hat, kann nicht depressiv sein, oder? Doch kann er! Hier mein Weg bis ich meine Depression akzeptiert habe.
Ende letzten Jahres: Es dauert länger bis ich mir selbst eingestehen kann, dass etwas nicht in Ordnung ist. Ich schreibe über das Sich-Schlecht-Fühlen zuerst in Andeutungen in meinem Jahresrückblick 2016. Aber das ist erst der Anfang. Meine Frau redet viel mit mir, versucht mir klar zu machen, dass es nicht nur ein sich schlecht Fühlen oder schlechtes Jahr ist, sondern „Mehr“. Die Idee des „Mehr“ braucht eine Weile zum Sacken.
Etwa zeitgleich schreibt ein Sport-Blogger, dem ich seit Jahren folge, plötzlich über seine Depressionen, Arztbesuche und schließlich seine Behandlung in einer psychosomatischen Klinik. In einigen seiner Beschreibungen finde ich mich wieder, in anderen auch nicht. Nachdem er einen Depressions-Test beschreibt, suche ich selbst online nach Tests, finde einen schönen neuseeländischen Maori-Test und BÄÄHHMMM „Anxiety“ (Angsstörung) vielleicht auch „Depression“ als Ergebnis. Die Idee des „Mehr“ wird konkret zur Idee Angsstörung, vielleicht auch Burn-Out. Obwohl beides nicht ganz passt, ist eine Depression immer noch nicht denkbar.
Als nächstes suchte ich als Online-Hipster-Nerd trotzdem nach Depression-Apps, weil es wenige/keine Anxiety-Apps gibt. Einige habe ich ausprobiert, echte direkte Einsichten aus den Apps habe ich erstmal nicht gewonnen. ABER ich beschäftige mich etwas mehr (nicht sehr intensiv) mit dem Thema Depression und Angststörung, langsam sehe ich ein, dass ich ein Problem habe.
Dann finde ich die MoodPath-App. Die App ist hübsch, einfach und vor allen leicht zu bedienen. Die App stellt 14 Tage lang dreimal täglich drei Fragen, die man auf einer vierstufigen Skala von „trifft nicht zu“ bis „belastet mich schwer“ mit swipen beantwortet. Die App ermittelt eine mittelgradige depressive Episode. Zum ersten Mal schwarz auf weiß, aber ich war darauf schon etwas vorbereitet.
Dann nimmt das Anerkennen der Depression mehr Fahrt auf, mir geht’s schlecht. Der Job als SCRUM Product Owner (PO) eines 10-köpfigen Team belastete mich, ich schlafe schlecht. Es reift die Idee meine Rolle als Product Owner abzugeben. Ich spreche mit meinen Chefs über einen mittelfristigen Zeithorizont. Kurzzeitig hilft mir der mittelfristige Plan, aber schließlich ich kann dann aber sogar kurzfristig meine PO-Rolle abgeben. Yeahhh, ich habe etwas aktiv unternommen!
Die Aufgabe der Product-Owner-Rolle ist einschneidender als gedacht, denn meine Entscheidung führt mir gleich selbst vor Augen, dass es so nicht weitergeht. Das fiese an einer Depression ist, dass man zwar die Probleme (vielleicht sogar) erkennen kann, aber man ist so gehemmt, dass es sehr schwierig ist etwas dagegen zu unternehmen. Meine Frau vereinbart einen Termin beim Hausarzt, ich gehe hin, schildere meine Probleme, weine, bin durch den Wind.
Der Hausarzt diagnostiziert ebenfalls eine Depression. Der Hausarzt erklärt – etwas vereinfachend – eine Depression als chemisches Ungleichgewicht im Gehirn. Für mich als Ingenieur ist das erstmal super, denn ein Ungleichgewicht kann wieder ins Gleichgewicht gebracht. Ich kann schließlich meine mittelgradige depressive Episode anerkennen.
Als nächstes versuche ich die Depression auch wieder los zu bekommen, stay tuned!


Ein Kommentar zu „Eine Depression, Stigmatisierung und so …“